Kontrolle der Atmung und des Geistes

Kontrolle der Atmung und des Geistes

Was macht Techniken mit Faustschlägen und Fußtritten besser als die Techniken aller anderen Kampfsportarten? Zunächst einmal sind die Techniken an sich schon überlegen. Außerdem werden die Hände und Füße, die Waffen des Karate, so trainiert, dass sie stark und schnell werden. Tritte und Schläge gegen Ziele aus Stroh sind eine uralte Methode zur Stärkung dieser Körperteile. Westliche Boxer, die mit dem Punchingball trainieren, haben schwächere Fäuste als Karateka. Durch das Tragen von Boxhandschuhen, welche die Gesamtoberfläche ihrer Fäuste vergrößern, schwächen sie ihre Hände eher. Die Knochen der Hände, Füße, Gelenke und Finger müssen bei Karateka stark sein, weil unvorsichtige Tritte und Schläge gegen Strohballen zu Verletzungen führen können. Aber das Training an Strohballen kann die Geschwindigkeit verlangsamen. Deshalb muss darauf geachtet werden, eine gewisse Geschwindigkeit beizubehalten. Ziel ist es, Schläge und andere Techniken zu entwickeln, die effektiv genug sind, um fünf bis sechs Bretter oder mehr als zehn Ziegel mit der Faust zu zerschlagen, Steine zu zertrümmern oder die Hörner eines Stiers abzureißen.

Das mentale Training ist eine Erklärung für die Stärken des Karate, doch eine weitere, ebenso wichtige Erklärung ist die psychologische Einheit. In allen orientalischen Kampfkünsten und in den meisten in Japan praktizierten Sportarten liegt der Schwerpunkt auf geistigen und spirituellen Aspekten, auf Ausdauer und Hingabe. Einige junge Menschen behaupten heute, sie seien an solchen Dingen nicht interessiert und wollten nur die Techniken gelehrt bekommen. Diese Haltung kommt wahrscheinlich daher, dass sie die geistigen und spirituellen Aspekte als abstrakt ansehen. Mit anderen Worten, sie haben noch keine Erfahrung mit den Auswirkungen gemacht, die diese mentalen Aspekte auf den menschlichen Körper haben können. Außerdem sehen diese jungen Japaner möglicherweise die Lehre der spirituellen Elemente als Ursache für die vermeintliche Unterlegenheit des östlichen Trainings gegenüber westlichen Trainingsmethoden.

Tatsächlich ist in allen orientalischen Trainings- und Schulungsmethoden, sowohl im künstlerischen als auch im Kampfsportbereich, die spirituelle Kultur das ultimative Ziel, welches nicht abstrakt ist, sondern mit den realen Beziehungen zwischen dem Geist und dem Körper zusammenhängt. Die östlichen Trainingsmethoden haben konkrete Konzepte für die vollständige Vereinigung von Geist und Körper entwickelt. Diese Konzepte sind nicht nur für die Geschicklichkeit und technische Leistung wichtig, sondern auch für das tägliche Leben und die Moral.

Sie bestehen aus drei Methoden: Atemkontrolle, Stärkung des Bauchbereichs zur Kontrolle der Atmung und Meditation. Sie beinhalten bestimmte Sitten und Rituale, sollten aber nicht als sinnlose Zeremonien betrachtet werden.

Seit jeher sagen östliche Gelehrte, dass sich das Geisteszentrum des Menschen in der Bauchgegend befindet. Wenn das Zentrum der Vernunft dort konzentriert ist, befindet sich der Mensch in seinem besten psychologischen Zustand. Es wird angenommen, dass die Stärkung des Geistes eine wesentliche Voraussetzung für die Stärkung des Bauches ist. Es gibt ein bekanntes, einfaches Beispiel dafür, was dies in der Praxis bedeutet. Wenn ein Mensch etwas Schweres heben will, spannt er den Bauch an. Indem er diesen Teil des Körpers stärkt, kann er mehr Kraft aufbringen. Das japanische Wort für den Bereich des Abdomens, über den wir sprechen und der für die mentale Vereinigung und die generelle Stärke des Körpers äußerst wichtig ist, lautet Tanden. 

Der Tanden ist das Zentrum des Körperschwerpunkts, die Arme und Beine bewegen sich um ihn herum. Und unter idealen Bedingungen kommt die gesamte Kraft, die der Körper aufbringt, aus diesem Bereich.

Die Kraft des Tanden ist dasselbe wie die Kraft der Bauchmuskeln, die psychologisch durch die Stärke oder Schwäche der Hüft- und Bauchmuskeln bestimmt wird. Die Kraft des Tanden oder deren Fehlen zeigt sich in der Flexibilität der Wirbelsäule, in den Kontraktions- und Dehnungskräften des Darms, in der Stärke der Bauchmuskeln und in der Kontraktionskraft des Schließmuskels. Mit anderen Worten: Je stärker die Muskeln, Knochen, Gelenke und Bänder der Hüftregion sind, desto größer ist die Kraft des gesamten Körpers. Der Tanden ist nicht nur das psychologische Zentrum des Menschen. Seine kombinierten Funktionen haben den östlichen Glauben an die Einheit von Körper und Geist hervorgebracht. Im Gegensatz zu spirituellen Philosophien, welche die Bedeutung des Körpers vernachlässigen, betont die östliche Philosophie der Tanden die Tatsache, dass sich das körperliche Dasein durch den Geist manifestiert und dass sich der Geist im Körper manifestiert. Die beiden sind eins. 

Die auf dieser Philosophie basierenden Modelle lösen Gegensätze und Widersprüche auf. Menschen, die ihren Körper und Geist vereinigt haben, spüren keinen Unterschied zwischen sich und der Außenwelt oder zwischen Geist und körperlicher Masse. Kurz gesagt, die Schulung des Geistes erfordert auch die Schulung des Körpers. Leider studieren und lernen zu viele zeitgenössische östliche Philosophen die Lehren des Tao von Shakyamuni (dem historischen Buddha) und Bodhidharma (einem großen buddhistischen Missionar und Patriarchen), ohne auf das körperliche Training zu achten, das alle diese Männer und Philosophen befürworteten. Dass nicht beide Aspekte dieser Philosophien berücksichtigt werden mag teilweise für die Leiden des modernen Menschen verantwortlich sein.

Die alten orientalischen Lehren haben als Trainingsmethoden ihre ideale Ausformulierung in den Karate-Trainingsarten erreicht, insbesondere in der des Kyokhusin-Karate. Die Atemkontrolle, die wichtigen Techniken der geistigen und körperlichen Vereinigung, werden seit langem von Yoga, Tao, Zen und den anderen buddhistischen Sekten gelehrt.

Bei allen verschiedenen Trainingsarten steht das Prinzip der perfekten Bauchatmung im Mittelpunkt, bei der die Luft tief eingeatmet, kurz angehalten und dann lange ausgeatmet wird. All diese Techniken stärken den Tanden. Bei der idealen Form dieser Atemtechnik wird so lange eingeatmet, bis die Luft zuerst den Bauch, dann den Brustkorb und schließlich den Bereich um das Schlüsselbein zu füllen scheint. Dann wird leicht ausgeatmet, und die verbleibende Luft nach unten in den Bauch gezogen; der Tanden spannt sich an. Schließlich wird die Luft ganz langsam ausgeatmet. Diese Atmung sollte so lange wie möglich andauern: Bei manchen Menschen dauert ein einziger Zyklus des Ein- und Ausatmens bis zu 3 Minuten.

Im Kyokushin-Karate wird eine ähnliche Methode, die Enshin-Atmung, im Rahmen der Zen-Meditation im Sitzen und im Stehen verwendet. Vor kurzem hat die wissenschaftliche Forschung die tiefgreifende Bedeutung dieser Methode bewiesen. Obwohl der Mensch sich in grauer Vorzeit wie die Affen mit mehr oder weniger waagerechter Wirbelsäule fortbewegte, entwickelte sich die Körperhaltung im Laufe der Zeit und er begann aufrecht zu gehen. Dies führte zu einer Vergrößerung des Brustkorbs und dazu, dass der Mensch weniger als andere Lebewesen in den Bauchraum atmet. Der menschliche Körper ist so aufgebaut, dass die Atmung problemlos von anderen Funktionen getrennt werden kann. Zwar hat diese Körperhaltung die enorme Entwicklung des menschlichen Gehirns ermöglicht, aber sie hat auch zu unnatürlichen Atemgewohnheiten geführt, sodass sich der Mensch bei Erschöpfung sofort vornüber beugt. Dadurch wird die Atmung stark gedrosselt. Vor drei- oder viertausend Jahren wurde im Yoga die Methode der tiefen Bauchatmung entwickelt, um den strukturellen Mangel auszugleichen, den der Mensch als Ausgleich zu seiner Fähigkeit, aufrecht zu stehen und aufrecht zu gehen, geerbt hat. Außerdem stärkt diese Methode, wie bereits erwähnt, den Tanden und sorgt für geistige Gelassenheit, weil sie die Vagusnerven (pneumogastrischen Nerven) stimuliert.

Zwischen den Trainingseinheiten empfiehlt Kyokushin-Karate wiederholte Ibuki-Atemübungen, um die tiefe Bauchatmung zu fördern, Ermüdungserscheinungen vorzubeugen und den ganzen Körper maximal zu stärken. Bei der Ibuki-Atmung verweilt man in der Heisoku-, Sanchin- oder Han-Heiko-Stellung und atmet so lange und so tief wie möglich ein. Am Ende des Atemzuges schwingt man die Arme nach oben, lässt sie auf beiden Seiten des Körpers große Kreise beschreiben und kreuzt sie dann vor dem Körper. Erst spannt sich der Tanden an, dann die Achseln, dann die Spitze des Zeigefingers und das Herz. Man dreht die Füße nach innen, hält den Atem an, spannt den Po stark an und konzentriert sich darauf, die Kraft mehr und mehr nach innen zu lenken, bis der Körper bebt. Danach werden die Arme seitlich vom Körper nach vorne geführt, um vor der Brust wellenförmige Bewegungen zu machen. Mit angewinkelten Ellenbogen atmet man ganz natürlich und laut aus. Am Ende des Atemzugs öffnet man die Hände, presst mit einem kräftigen Ausatmen die gesamte restliche Luft aus der Lunge und atmet wieder ein. Wenn man diesen Zyklus vier- oder fünfmal wiederholt, normalisiert sich die Atmung selbst nach den anstrengendsten Trainingseinheiten wieder. Wenn man diese Übung vor dem Tameshi-wari durchführt, wird man in der Lage sein, sofort die nötige Kraft aufzubringen, um Bretter, Fliesen oder andere harte Materialien zu zerschlagen.

Das kräftige Ausatmen beim letzten Atemzug ist eine Übung zur sofortigen Kraftkonzentration. Eine solche Kraft soll nicht aus den Fingern kommen, sondern aus dem Tanden, dem Zentrum des Körpers. Indem man zuerst den Tanden, dann die Achseln und schließlich die Fingerspitzen anspannt, trainiert man, die Kraft vom Zentrum zu den Extremitäten des Körpers wandern zu lassen.

Eine weitere Atemtechnik, die im tatsächlichen Karatekampf angewendet wird, wenn man sich einem Gegner stellt und seinem Angriff ausweichen will, heißt Nogare. Hiervon gibt es zwei Varianten, die externe und die interne. Bei der externen Variante wird die Luft langsam ausgeatmet, während sie bei der internen Variante schnell ausgeatmet wird. In beiden Versionen wird schnell eingeatmet.

Wie die Methoden des Zen, des Tao und des Yoga beziehen alle Arten der Atmung im Karate das Abdomen mit ein. Alle diese Methoden stärken den Tanden für mehr Kraft und Geschwindigkeit bei Schlägen und Tritten. Wenn der Tanden in einem guten Zustand ist, sind Geist und Körper in Einklang, und sowohl der Körper als auch der Wille sind stark.

Die Einheit von Geist und Körper ist im Karate besonders wichtig, da es auf Schnelligkeit und schlagartige Kraftentwicklung ankommt. Folglich ist Kraft im Tanden unerlässlich. Außerdem spielt die Art der Karatebewegungen eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Tanden.

Heutzutage beschäftigt sich das Zen-Training weitgehend mit der sitzenden Meditation, aber der Mensch ist ein aktives Wesen, so dass lange Phasen des Sitzens für uns nicht gesund sind. Karate bedeutet aktives, lebendiges Zen.

Die alten japanischen Krieger fanden im Zen-Buddhismus, welcher im 12. Jahrhundert aus China übernommen wurde, eine Religion, die sie Vertrauen in ihre eigene Stärke lehrte und ihnen etwas Absolutes gab, was sie zu großem Mut und einem Leben ohne Reue befähigte. Meiner Meinung nach ist Kampfsporttraining eine Abkürzung zum ultimativen Zen-Zustand der Erleuchtung.

In ihrem ursprünglichen Zustand enthalten die meisten Religionen gewisse Vorschriften oder Regelungen, die den Geist und den Körper trainieren. Shakyamuni, der historische Buddha, lehnte extreme und asketische Praktiken ab. Er unterzog sich ihnen sechs Jahre lang und lernte, dass sie nicht zur vollkommenen Erleuchtung führen. Doch nachdem er diese Erleuchtung durch tiefe Meditation erlangt hatte, trainierte er weiterhin seinen Körper und reiste viel und oft. Er lehnte nicht unbedingt das mentale und psychische Training ab, sondern vielmehr die übertrieben strengen asketischen Praktiken, die über die menschlichen Kräfte hinauszugehen versuchen. Jesus Christus fastete vierzig Tage und vierzig Nächte lang in der Wüste Mohammeds. Er erlangte die Erleuchtung nach einer strengen asketischen Prüfung. Das Problem ist, dass die Trainingsmethoden den historischen Entwicklungsverlauf nicht überlebt haben. Alles, was uns davon geblieben ist, sind schriftliche Überlieferungen. Die Menschen beschäftigen sich mit dem Studium und der Wertschätzung dieser Überlieferungen und vernachlässigen dabei das eigentliche Training.

Bodhidharma hat in seinen aus Indien nach China mitgebrachten Lehren einige Dinge aufgenommen, die dem Karate-Training sehr ähnlich sind. Die berühmten Kampftechniken von Shao-Lin-Suu basieren auf Schriften, die Bodhidharma zugeschrieben werden, und die Stellungen, die dabei angewendet werden, werden schon seit langer Zeit von den Statuen der achtzehn Arhats dargestellt, welche mit Shao-Lin-Suu in Verbindung stehen.

Es heißt, Bodhidharma habe neun Jahre lang die sitzende Meditation praktiziert. Dies ist eine unnatürliche und ungesunde Lebensweise. Es ist jedoch sehr bezeichnend, dass er neben der sitzenden Meditation auch ein aktives Trainingsprogramm lehrte. Sicher scheint, dass er unbewaffnete Kampftechniken zum Selbstschutz und als Training befürwortete. Für einen Geistlichen ist die Verwendung von Waffen nicht erstrebenswert, aber Schutz, Bewegung und Arbeit sind für das Wohlergehen unerlässlich. Im Laufe der Zeit hat sich das chinesische Zen jedoch vom waffenlosen Kampftraining entfernt und sich ausschließlich auf die sitzende Meditation oder auf Dialoge konzentriert, die auf dem sogenannten Koan basieren, einer Atemtechnik, die zur Verbesserung der geistigen Konzentration in der Zen-Meditation sehr wertvoll ist. Langes Sitzen und lautes Lesen von Sutras haben im Übrigen die selbe Wirkung wie Atemübungen. In den Dojos wenden ganz bewusst etwas Ähnliches an. Vor jeder Trainingseinheit nimmt jeder Teilnehmer die Position der sitzenden Zen-Meditation ein und sagt die Gebote des Dojos auf.

Wie wir festgestellt haben, enthält Karate verschiedene Elemente des spirituellen und mentalen Trainings aus anderen Religionen und Philosophien. Der Konfuzianismus allein bietet in dieser Hinsicht nichts. Obwohl er das Bogenschießen zu den sechs Künsten zählt, lehrt er kein eindeutiges Konzept für die mentale Schulung.

Die Krieger der japanischen Kampfkunst übernahmen die Methoden der mentalen und spirituellen Kultur des Zen-Buddhismus, orientierten sich aber am Konfuzianismus, wenn es um Höflichkeit und Treue gegenüber ihrem Herrscher ging. Mit anderen Worten: Bei der Ausübung der Religion, der mentalen Schulung und den Kampfstellungen ließen sie sich vom Zen leiten, aber in den sozialen Beziehungen folgten sie den konfuzianischen Geboten. Ich denke, das ist richtig. 

Wenn man den Konfuzianismus für den Mangel an mentalen Trainingstechniken verantwortlich macht, dann ist Zen heutzutage im Irrtum, denn es befürwortet ein einsames Leben in abgelegenen Tempeln. Wir sollten Zen zur Schulung nutzen, ohne uns aus der Gesellschaft zurückzuziehen, und wir sollten Konfuzius folgen, um bestmöglich in der Gesellschaft leben zu können.

Wenn die Vernunft aufgrund von Atemtechniken und der Stärkung des Tanden tief im Abdomen verankert ist, kann sie ihre Kraft nutzen, um gute und präzise Urteile zu fällen. Es gibt viele Debatten über geistige Fähigkeiten, doch nur sehr wenige Dinge können mit dem Verstand allein begriffen werden. Es ist wahr, dass die Forschung sehr viel Wissen zusammengetragen hat, aber nicht immer kann sie das Universum erklären, die Natur des Seins definieren und sie kann auch niemandem vorschreiben, wie er leben soll. Das sind Dinge, die der menschliche Verstand allein nicht bestimmen kann. Die westliche Wissenschaft kann immer noch nicht mit Gewissheit sagen, ob Geist und Körper sich gleichen oder unterscheiden, oder, wenn sie sich unterscheiden, welcher der beiden Aspekte die stärkere Präsenz hat.

Die meisten östlichen Philosophien gehen davon aus, dass Geist und Körper eins sind, und dass die Schulung beider simultan erfolgen sollte. Darin liegt die Bedeutung der Atemkontrolle, der Stärkung des Tanden und der Konzentration des Bewusstseins auf den Tanden. Wenn dies erreicht ist, kann man alle Dinge so akzeptieren, wie sie sind. Gegensätze und Widersprüche hören auf zu existieren. Diesen psychischen und mentalen Zustand zu erreichen, ist eines der Ziele des Karate.

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